Unsere Kundschaft ist eine bunte Palette verschiedenster Menschen. Der Kontakt zu ihnen hat sich im Laufe der Jahre ziemlich verändert. Waren die Führerstände einst offen wie bei den Zweiachsern, kamen später Kabinen, die dann noch mit Scheiben abgetrennt wurden. Dies ist gerade heute eine gute Sache, vor allem für die weiblichen Wagenführerinnen, die leider eher das Ziel blöder Sprüche sind.

Heute sind die Fahrgäste eher tolerant, wenn das Tram mal verspätet kommt. Es ist ja auch so, dass auf der Strasse oftmals nichts mehr geht, und samstägliche Demonstrationen gehören ja schon fast dazu wie das Wetter. Beliebt sind diejenigen Fahrgäste, welche bei Verspätung des Trams sehr deutlich mit dem Finger auf ihre Rolex deuten. Ein nettes Zurücklächeln wird dann nicht wirklich goutiert. Generell aber muss ich unsere Kundschaft als recht freundlich beurteilen; sicher ist es auch so wie der Spruch: Wie man in den Wald ruft, kommt es zurück. Wir vorne haben die Verantwortung und man muss sich nie alles gefallen lassen. Manchmal muss man auch akzeptieren, dass es auch nicht allen immer gut geht. Alles läuft schief, dann kommt noch das Tram zu spät und der Anschluss ist auch weg. Also sucht man sich ein Opfer, und das sitzt vorne drin und kann sich ja nicht wehren.

Was mich immer etwas fasziniert hat: Man sieht ja oft die gleichen Leute, im Laufe der Jahre wird man mit ihnen älter. So erfreut man sich an einer hübschen jungen Frau, und plötzlich steht sie als Mutter auf der Haltestelle mit ihren Kindern, dann sogar mit den Enkelkindern. So beobachtet man, wie die Menschen älter werden, oder erst schwach behinderte Menschen zusehends invalider werden, und erkennt, wie banal die eigenen Probleme doch eigentlich sind! Oft bezeugt der Augenkontakt, dass man sich trotzdem über die Jahre irgendwie bekannt ist.

Als ich bei den BVB begann, war am Marktplatz ein kleiner Stand mit Gewürzen, mit einem jungen Inder als Verkäufer. Aus irgendeinem Grund grüssten wir uns immer, wenn ich dort vorbeifuhr. Es ist Jeffery Sandragesan, der später ein Restaurant führte, er war Grossrat und ist Honorarkonsul von Malaysia. Wir sind noch immer per Du und ein Besuch an seinem Stand am Petersplatz ist für mich obligatorisch. So läuft die Zeit unerbittlich! Und aus so einer ja eigentlich privilegierten Position die verschiedenen Menschen zu beobachten kann ja äusserst interessant sein! Da wartet jemand etwas griesgrämig, um das blöde lange Tram vorbei zu lassen. Dann winkt man die Person vorbei und bekommt in der Regel ein Lächeln zurück, und schon ist die Welt etwas heller! In der maskendominierten Coronazeit empfand ich diese gesichtslosen Menschen als enorm bedrückend.

Die lieben Fahrgäste, eine bunte Palette verschiedenster Menschen (Bahnhof SBB, März 1988).
© Dominik Madörin, CH-Ettingen (Bild-Nr. -)

In allen Städten gibt es Menschen, die nicht den Normen entsprechen, geistig behinderte, Menschen mit bestimmten Macken. Solchen begegnet man mit diesem Beruf zwangsläufig recht oft. Einige der Personen leben heute noch, aber generell sind solche Originale am Verschwinden. Der bekannteste, der «Bluemefritz», war immer mit seinem Veloanhänger anzutreffen und hatte sein Leben recht gut im Griff. Die lustigste Geschichte vom Bluemefritz hörte ich am Radio. Ganz zum Schluss bekam er von der Regierung so ein kleines Automobil mit 30er Beschränkung. So wollte er mal ins Tessin fahren. Durch den Gottharttunnel! Man stelle sich das vor, dieser ewig lange Tunnel und zuvorderst ein Göppel mit gefühltem Schritttempo, Wahnsinn! Zum Glück drangen im Tunnel die Flüche und Verwünschungen der Automobilisten nicht zum Chef durch! Den Tessiner Polizisten dürfte es dann auch schwergefallen sein, den Ernst zu bewahren…

Webstübler

So nannte man diese Menschen damals, weil sie in der sogenannten «Webstube» an der Missionstrasse arbeiteten. Die meisten mit dem Down-Syndrom. Auch an der damaligen Endstation der Linie 3 gab es die «Milchsuppe», eine psychiatrische Anstalt. Daher hatten wir auf dieser Linie oft solche Personen im Tram. Und die plauderten sehr gerne mit uns Drämmlern; man kannte sich sogar etwas. Es waren meist lustige und kontaktfreudige Leute. Und mit dieser ganz typischen, nasalen Sprache. Einer war berüchtigt: Mit Vorliebe setzte er sich neben schöne, junge Frauen und himmelte sie an «Ouu, du bisch denn e schööni»! Worauf diese dann oft ziemlich rot anliefen, aber doch meist mitmachten. Im Winter folgende Begebenheit: Es gab ja damals das Gebot, bei Kälte die vordere Türe nicht zu benutzen. Ein Webstübler stand dort und schaute mir über die Schulter. Dann wollte jemand aussteigen und schubste ihn weg. Der meinte nur: «Ich bin ja ein Duubeli, aber selbst ich weiss, dass man da nicht aussteigen soll!» Der machte sich dann auch etwas mit rotem Kopf von dannen.

Missionsstrasse mit Tramzug der Linie 3 im Mai 1988. In diesem Bereich befindet sich das heutige WohnWerk für Menschen mit Behinderung, früher «Webstube». Die Textilproduktion wurde 1971 allerdings aufgegeben.
© Dominik Madörin, CH-Ettingen (Bild-Nr. 1.197)

In diesem Quartier war aber auch die Reha und man sah oft an Wochenenden die Eltern, die ihre schwerstbehinderten Kinder in Spezialrollstühlen spazieren führten. Der Anblick dieser unsäglich armen Geschöpfe und ihren Eltern, denen man ihre Qual geradezu ansah, war kaum auszuhalten. Und die eigenen Problemchen plötzlich lächerlich.

Camping

Das Highlight erlebte ich mal im 8er in Kleinhüningen. Ein Fahrgast reklamierte, hinten sei alles durch komische Leute besetzt. Ich schaute mal nach und tatsächlich: Ein ganzes Abteil war in eine Schlafzelle umgewandelt! Die lagen quer auf den Sitzen und unter flauschigen Decken am Schlafen. Ein Anblick, den ich gerne fotografiert hätte! Ich hatte aber da keine Zeit; der Kontrolldienst räumte dann am Bahnhof SBB den Wagen.

Ein 8er mit Be 4/6 683 und B 1496 an der Endhaltestelle in Kleinhüningen. Camper sind auf diesem Bild vom 27. Mai 2004 allerdings keine auszumachen…
© Dominik Madörin, CH-Ettingen (Bild-Nr. 13.295)

Die religiösen Eiferer

Auffällig war eine Frau, die, wenn Sie ins Tram einstieg, sich sofort auf den Boden warf wie in einer Kirche. Und dann allerlei Religiöses von sich gab. Sie war auch demonstrativ «in Lumpen» gehüllt. Beim Aussteigen wurde der Scheinwerfer des Trams noch gesegnet mit allem üblichen Firlefanz. Sie hatte aber noch den Drang, andere zu bekehren, gerne Kinder und ältere Leute. Und da kam sie in meinem Tram einmal definitiv an die Falsche; eine recht betagte Dame, ergo ein leichtes Opfer. Weinerlich beklagte sie sich über allerlei Gottlosigkeit, die Barfüsserkirche, die nun ein lasterhaftes Museum beherberge etc. Da kam aber etwas zurück von der älteren Frau, dass ich der nie zugetraut hätte: «Sie müssen ja früher recht herumgehurt und gesündigt haben, dass sie sich jetzt so verhalten!» Die «Heilige» wurde käsebleich und flüchtete wortlos an der nächsten Haltestelle. Und mein Tram blieb für einmal ohne Segen!

Stadtbekannt auch dieses Original. Der Mann stieg in die Trams und Busse ein und rezitierte dann sehr laut biblische Verse. Manchmal proletete er auch in aller Frühe schon auf Plätzen, man hörte das schon von weitem. Der Clou dann an einem Freitagabend, auf dem Claraplatz. Er kam um die Ecke, splitternackt, ein nicht wirklich erhebender Anblick, über dem Arm die Kleider und predigte vom sich mit falschen Federn schmücken oder sowas. Ein Gaudi sondergleichen, alles schmunzelte, die Älteren waren natürlich entsetzt. Da kamen zwei Polizisten ums «schiefe Eck», als sie den Nackedei sahen, machten sie eine zackige Kehrtwende, dem Unheil entfliehend.

Die Militärischen

Sehr bekannt auch jener Mann mit dem verbrannten Kopf. Vor seinem Unfall war er schon immer mit militärischen Utensilien ausgestattet, getraute sich aber trotzdem nicht so recht. Nach dem Unfall (er hantierte mit explosivem Material) sah er sich wohl als Kriegsopfer und war in allen möglichen Uniformen und schwer mit Orden behangen unterwegs. Eigentlich ein armer Kerl, aber da er sehr renitent vor allem gegen Frauen war, auch etwas gegen den Wind roch, gingen ihm alle aus dem Weg. Er sass dann oft sehr lange an einem bestimmten Tisch beim Casino mit mehreren Cola-Flaschen. Dieser «Soldat» fuhr oft mit dem 3er; am Barfüsserplatz stieg er bei mir aus, mokierte sich wie üblich über den «Scheissdrämmler». Nun sah ich, dass an «seinem» Tisch zwei jüngere hübsche Frauen sassen, die schon etwas komisch meinen Spezialgast anvisierten, nichts ahnend. Aber ich wusste genau, was da kam, so blieb mein Tram gerne etwas stehen! Das Mienenspiel der zwei Damen war köstlich, die Augen wurden immer grösser, langsamen Entsetzen weichend, je näher er kam.  Zielgerichtet steuerte er diesen Tisch an, setzte sich ohne zu fragen und machte sich breit. Leider musste ich weiterfahren, aber ich vermute, dass auch die Damen dringend weiter mussten.

Der Haltestellen-Vorstand

Er hiess Urs, stand gerne am Marktplatz mit einer grünen Kelle und Bähnlerkäppi und sagte die jeweiligen Linien an, die da einfuhren. Waren die Türen zu, wurde dann fordernd die Kelle geschwungen. Immerhin sorgte er dafür, dass die Mienen der Leute deutlich fröhlicher wirkten als normal. Er war aber vielseitig: So marschierte er im Sommer oft von Gartenbaiz zu Gartenbaiz und las laut die Menukarten einiger Restaurants vor.

Die Aussenseiter

Mit Drogen- und Alkoholsüchtigen oder Clochards hat man es auch seine Erlebnisse. So muss manchmal einer auch zum Aussteigen aufgefordert werden, wenn sie mit eingenässten Hosen einsteigen wollen. Oder die Drogensüchtigen, wenn sie panikartig die Orte aufsuchen, um ihre Spritzen zu setzen. Aber diese armen Teufel wie auch die Alkoholiker hinterlassen doch eher ein deprimierendes Gefühl; man weiss ja auch, dass es oft nicht viel braucht, um auch gesunde Menschen in eine solche Abwärtsspirale zu bringen. Da man ja auch immer an den bekannten Plätzen mit diesen Süffeln vorbeifährt, bekommt man den rasanten Zerfall dieser Leute gut mit.

Stinkerchen

Einmal fiel mir auf, dass das Tram sehr einseitig besetzt war, irgendwie müffelte es auch bedenklich. Jemand beschwerte sich, so ging ich nach hinten. Da sass einer, bei sehr warmer Witterung in Winterkleidern und stank derart vor sich hin, dass vermutlich sogar die Fliegen flüchteten. Lustig aber war, dass trotz stark besetztem Tram die Sitzplätze um ihn herum leergefegt waren.  Auch den bat ich, die frische Luft (und eventuell eine Dusche) aufzusuchen. Vor allem im Winter ist das warme Tram ein beliebter Aufenthaltsort für Clochards.

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Zuletzt aktualisiert am 21. November 2023 von Dominik Madörin