COMBINO Refit

Alle acht Jahre steht bei Strassenbahnwagen eine Hauptuntersuchung (HU) an, bei welcher die Fahrzeuge gründlich inspiziert, Verschleissteile gewechselt und Komponenten aufgearbeitet werden. Die Basler Verkehrs-Betriebe (BVB) nutzten die ab 2018 anstehende zweite Hauptuntersuchung dazu, ihre COMBINO-Flotte für weitere sechzehn Jahre fit zu machen. Im Fokus standen neben der normalen Aufarbeitung von Wagenkästen und Fahrwerken die Erhöhung der Fahrzeugzuverlässigkeit sowie die Sicherstellung der langfristigen Verfügbarkeit.

Um die Revisionen der gesamten Fahrzeugserie möglichst effektiv und optimal durchführen zu können, wurde im Herbst 2015 zunächst ein Prototyp (Be 6/8 303) aufgearbeitet und dieses Fahrzeug anschliessend ein Jahr lang im Fahrgastbetrieb auf Herz und Nieren geprüft. So reduzierten die Verkehrsbetriebe das Risiko von teuren Nacharbeiten über die gesamte Flotte und sammelten gleichzeitig Rückmeldungen von Fahrgästen, Wagenführern und Instandhaltungspersonal. Zusätzlich konnten im Rahmen einer Prototyp-Aufarbeitung vertiefte inspektive Untersuchungen vorgenommen werden, etwa um die Frage zu klären, ob sich seit der Sanierung neue Risse in der Wagenkastenstruktur gebildet hatten. Dies war glücklicherweise nicht der Fall.

Neben der Technik nutzte auch die Marketingabteilung die Hauptuntersuchungen als Gelegenheit, die Niederflurwagen an die aktuellen Kundenbedürfnisse anzupassen. So las sich der Wunschkatalog des Marketings wie die Weihnachtswunschliste eines Teenagers: Neu gestaltete Frontpartie, neue Sitze, neue Innenlackierung, LED-Aussenbeleuchtung mit Tagfahrlicht, Infotainmentsysteme usw. Was bei Neufahrzeugen als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird, muss bei älteren Fahrzeugen mit hohem Aufwand nachgerüstet werden. So übernahm denn auch das vorgesehene Budget die Rolle des elterlichen Spielverderbers bei der Weihnachtswunschliste und ein Teil der Wünsche fiel dem Rotstift zum Opfer. Der Laie erkannte aufgearbeitete Fahrzeuge dennoch auf den ersten Blick: Das neue Dunkelgrün mit weissem Akzentbogen an der Front liessen das Tram deutlich jünger und dynamischer wirken.

Die Hauptuntersuchungen erforderten eine sorgfältige und langfristige Planung, um Fristen einhalten und Durchlaufzeiten optimieren zu können. Schon früh nahmen die BVB daher mit Siemens Mobility AG Kontakt auf, um gemeinsam das Vorgehen zu vereinbaren. Speziell bei tiefer gehenden technischen Aufgabenstellungen arbeiteten Verkehrsbetriebe und Industrie eng zusammen, um das Know-how aus Konstruktion und Betrieb optimal zu kombinieren.

Bei allen Fahrzeugen sollte im Rahmen der HU auch eine Sicherheitsfahrsteuerung am Befehlsgeber gemäss aktuellen Vorgaben des BAV nachgerüstet werden. Während das Engineering unter der Verantwortung von Siemens gemeinsam mit dem Hersteller des Fahrschalters durchgeführt wurde, nahm die BVB den Einbau vor. So konnte das Instandhaltungspersonal der BVB gleich die ersten Erfahrungen sammeln, und Siemens bekam praxisgerechte Rückmeldungen. Die Zulassung der Sicherheitsfahrsteuerung wurde von den BVB beim Bundesamt für Verkehr (BAV) veranlasst. Pünktlich zur Fertigstellung des Prototypen Mitte Dezember 2015 waren die Umbauten beendet und die Zulassung des BAV lag vor.

Im Bereich der Elektronik waren erste Komponenten vom Obsoleszenzrisiko betroffen, darunter zwei für den sicheren und zuverlässigen Betrieb entscheidende Systeme: Bremsrechner und Fahrzeugbus. Mehrere Prozessoren der Baugruppen wurden nicht mehr gefertigt, was zu einer Neuentwicklung neuer Baugruppen auf Basis aktuell lieferbarer Bauteile führte.

Was bei einem Menschen das Rückgrat, ist bei einem modernen Fahrzeug der Fahrzeugbus. Hier werden alle Informationen gebündelt und Steuerbefehle an die angeschlossen Baugruppen verteilt. Bei dem in den Basler COMBINO verbauten Fahrzeugbus auf Basis des DIN-Protokolls wurde die Ersatzteilbeschaffung einzelner Baugruppen zunehmend schwieriger. Daher entschlossen sich die BVB dazu, Siemens mit dem Umbau auf den zeitgemässen MVB (Multifunction Vehicle Bus) zu beauftragen. Als erstes Fahrzeug wurde Ende 2016 der HU-Prototyp 303 mit dem neuen System ausgerüstet. Anschliessend begann eine einjährige Testphase im Fahrgastbetrieb. Zur Kostenoptimierung wurde entschieden, nur sieben Fahrzeuge komplett umzurüsten und an den weiteren Fahrzeugen lediglich die für eine allfällige spätere Umrüstung erforderlichen MVB-Kabel zu installieren. Die aus den sieben umgerüsteten Fahrzeugen freiwerdenden Ersatzteile dienten als Reserve für die restliche Flotte.

Die aus der HU des Musterwagens 303 gewonnenen Erkenntnisse wurden einer vertieften Analyse unterzogen. Daraus ergab sich, dass sich bei einer Taktfertigung die Durchlaufzeit von ursprünglich 35 Arbeitstagen pro Fahrzeug auf 22 Tage verkürzen und die Kosten gegenüber früheren Kalkulationen um 16 Prozent senken liessen. Bei der Taktfertigung wurden die sieben Fahrzeugmodule voneinander getrennt und mobil nacheinander durch die nötigen Arbeitsschritte geführt. Das Funktionieren der erarbeiteten Prozesse in der Praxis wurde im Frühjahr 2017 an einem zweiten Musterwagen (Be 6/8 306) erprobt und weiter optimiert.

Der Start der Serienfertigung erfolgte zu Beginn des Jahres 2018. Mit dem COMBINO 324 konnte die zweite HU dieses Fahrzeugtyps im September 2021 erfolgreich zu Ende gebracht werden.