Der Be 4/8 250 entgleiste am 2. November 2011 in Münchenstein und wurde in der Folge abgebrochen. Der Untersuchungsbericht zu diesem Ereignis konnte qualitativ nicht überzeugen.
© Dominik Madörin, CH-Ettingen (Bild-Nr. 9_198)
Am 2. November 2011 um 23:30 Uhr entgleiste in Münchenstein Dorf im Bereich der dortigen Wendeschlaufe ein in Richtung Dornach fahrendender Tramzug der Linie 10 mit allen 14 Achsen. Die Doppeltraktion bestand aus dem Be 4/8 250 und dem Be 4/6 113 der Baselland Transport AG (BLT). Sie kam erst an der Mauer des Wohnhauses Tramstrasse Nr. 61 zum Stillstand, was neben Schäden an Fahrzeugen und Bahninfrastruktur zusätzlichen Sachschaden an privatem Eigentum verursachte. Personen wurden zum Glück nicht verletzt.
Aufgrund der Schwere des Ereignisses wurde die damalige Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle (SUST) aufgeboten, welche die Entgleisung untersuchte und am 9. Oktober 2012 einen entsprechenden Schlussbericht (Reg.-Nr. 1110202) vorlegte. Dieses Dokument gab nicht nur aufgrund der zahlreichen grammatikalischen und orthographischen Auffälligkeiten Anlass, etwas vertiefter betrachtet und kommentiert zu werden.
Die SUST
Am 1. Oktober 2000 nahm die damalige Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe (UUS) ihre Tätigkeit auf. Vor der Bahnreform 1 bzw. einer Revision des Eisenbahngesetzes wurden Unfalluntersuchungen von der Aufsichtsbehörde, dem Bundesamt für Verkehr (BAV), oder den Bahnen selbst durchgeführt. Da beispielsweise die Aufsichtsbehörde aber durch den Erlass von unzweckmässigen Vorschriften oder Unterlassung ihrer Pflichten an der Entstehung von Ereignissen mitbeteiligt sein konnte, sah man eine Trennung als sinnvoll an, was zur Gründung der unabhängigen UUS führte. Die Behörde war administrativ dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) angegliedert.
Per 1. November 2011 wurde die UUS mit dem Büro für Flugunfalluntersuchungen (BFU) zur ebenfalls direkt dem UVEK unterstellten Schweizerischen Unfalluntersuchungsstelle (SUST, ab 2015 Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle) fusioniert. Zu den Aufgaben der SUST gehörte die Untersuchung von Unfällen mit Schwerverletzten, Toten oder hohem Sachschaden (> CHF 100ʼ000.00) bei Eisenbahnen, Seilbahnen, Strassenbahnen und Schiffen zuhanden der Gerichts- und Verwaltungsbehörden. In der Regel nicht untersucht wurden Ereignisse mit Strassenbahnen, die lediglich auf eine Verletzung der Strassenverkehrsregeln zurückzuführen waren. Darüberhinaus ging die SUST Zwischenfällen in der zivilen Luftfahrt nach.
Von der SUST bzw. der früheren UUS veröffentlichte Schlussberichte über Unfälle und Ereignisse bei Bahnen oder Schiffen waren in der Regel verständlich verfasst, folgten einheitlichen Schemata, erweckten den Eindruck einer gründlichen und unabhängigen Untersuchung durch Fachpersonen und liessen selten Fragen offen. Ein etwas anderes Bild vermittelte der Bericht Reg.-Nr. 11110202 zur Entgleisung in Münchenstein. Zum Vergleich sei auf den Schlussbericht Reg.-Nr. 11100601 zur Flankenfahrt zweier Regionalzüge der SBB in Olten am 6. Oktober 2011 – rund einen Monat vor dem Ereignis in Münchenstein – hingewiesen, welcher in allen Punkten zu überzeugen vermochte.
Untersuchungsdauer
Als erstes fiel auf, dass im Vergleich zur relativ geringen Komplexität des Ereignisses der Abschluss der Untersuchungen, mindestens jedoch die Veröffentlichung des Schlussberichtes, ungewöhnlich lange dauerte. Externe Gutachten wurden keine eingeholt. Auch Materialprüfungen o. Ä. wurden nicht in Auftrag gegeben, so dass die Gründe für die Verzögerungen hier nicht zu suchen waren.
Der Hauptgrund für die lange Untersuchungsdauer dürfte bei der unmittelbar vor der Münchensteiner Entgleisung eingeleiteten Zusammenlegung der beiden Unfalluntersuchungsbehörden und den damit verbundenen internen Umstrukturierungen und Reorganisationen gelegen haben. Da bei der Entgleisung nur Sachschaden entstand und keine Verletzten oder gar Tote zu beklagen waren und da wegen der sofortigen, jedoch nicht öffentlich kommunizierten Ausserbetriebsetzung der Schlaufenanlage bzw. dem späteren Umbau der Sicherungsanlagen eine Wiederholung des Ereignisses praktisch ausgeschlossen werden konnte, dürfte den Untersuchungen bzw. der Verfassung des Schlussberichtes auch keine hohe Priorität eingeräumt worden sein.
Sowohl für die Verkehrsbetriebe als auch für am Unfall direkt beteiligte Personen wurde die Situation aber je länger je unangenehmer. So beklagte die BLT öffentlich das Ausbleiben des Schlussberichtes, konnte sie doch dadurch nicht proaktiv über die Unfallursache informieren. Die Bewohner der betroffenen Liegenschaft blieben ebenso im Unklaren über die genaue Unfallursache wie andere am Ereignis beteiligte Personen oder etwa die Fahrgäste als Kunden der BLT. Mussten sie damit rechnen, dass sich das Ereignis jederzeit wiederholen konnte oder durften sie sicher sein, dass eine erneute Entgleisung an derselben Stelle ausgeschlossen ist?
Ein Schlussbericht im Umfang des Dossiers Reg.-Nr. 1110202 zu einem Ereignis in der Grössenordnung «Münchenstein» sollte von einer staatlichen Untersuchungsbehörde innerhalb eines halben Jahres vorgelegt werden können.
Terminologie
Personen, welche Unfälle im Verkehrswesen untersuchen und Schlussberichte auf Papier mit dem Briefkopf der Schweizerischen Eidgenossenschaft unterzeichnen, sollte man eigentlich eine gewisse Fachkunde unterstellen können. Fachkunde umfasst unter anderem «die Kenntnis der fachspezifischen Ausdrücke und Fachtermini (Fachsprache)» (Online-Enzyklopädie «Wikipedia», abgerufen am 24.05.2013). Gerade in diesem Bereich wies der Schlussbericht Reg.-Nr. 1110202 erhebliche Defizite auf. Nachstehend zwei entsprechende Beispiele a und b.
a. Tram – Komposition – Zug
Schon im ersten Abschnitt 0.1, der mit dem Satz «Das Tram der Baselland Transport (BLT) Nr. 250 … hielt … ordnungsgemäss bei der Haltestelle ‹Münchenstein Dorf› an.» eingeleitet wird, fand sich Verwirrendes. Eine Linie 250 existierte im gesamten TNW-Gebiet nicht, ebenso wenig ein Kurs der Linie 10 mit der Kursnummer 250. Es musste daher davon ausgegangen werden, dass der Autor eine Wagennummer meinte.
Einen Hinweis darauf, dass es sich nicht nur um den alleinfahrenden Be 4/8 250 handeln könnte, fand sich schon im nächsten Satz: «Nach dem Halt und dem Fahrgastwechsel setzte der Triebfahrzeugführer die Komposition in Bewegung und beschleunigte.»
Das deutsche Wort «Komposition» leitet sich vom lateinischen «compositio» ab, was mit «Zusammenstellung» oder «Zusammensetzung» übersetzt werden kann. Die Dokumentation «Öffentlicher Personenverkehr und Schienengüterverkehr; Grundnorm und Glossar», die 2006 unter der Nummer SN 671001 vom Schweizerischen Verband der Strassen- und Verkehrsfachleute (VSS) herausgegeben worden war und auf die sich zum Beispiel auch die Terminologie der SBB stützte, definierte «Komposition» in Bezug auf das Bahnwesen denn auch wie folgt: «Zugbildung von Triebfahrzeug(en) und Wagen, …». Der Be 4/8 250 war tatsächlich nicht als Alleinfahrer unterwegs, denn er bildete mit dem hinten angekuppelten Wagen 113 eine – Komposition. Diese verkehrte als Tramzug nach Dornach.
Im Abschnitt 1.7 des Schlussberichtes wurde auf die an der Entgleisung beteiligten Fahrzeuge eingegangen: «Komposition bestehend aus zwei Tramzügen: Spitzenkomposition: Nr 250 bestehend aus drei Teilen wobei der Mittelteil eine sogenannten ‹Sänfte› mit einen Tiefeinstieg ist. Dieser Teil war in der Originalkomposition nicht enthalten und wurde später eingebaut um einen behindertengerechten Einstieg bereitzustellen. Nachlaufende Komposition Nr. 113: gleiche Komposition wie Nr. 250 jedoch ohne ‹Sänfte›.»
In der Umgangssprache hatte sich der Begriff «Zug» als Bezeichnung für einzelne oder zusammengekuppelte Fahrzeuge irgendwelcher Art durchgesetzt. Obwohl der Begriff zeitweise arg strapaziert wurde (Zugwagen statt Bahnwagen, Zugstrecke statt Bahnstrecke usw.), konnte es je nach Kontext richtig sein, den Begriff «Tramzug» für die Bezeichnung eines Einzelfahrzeuges zu verwenden.
Eine einzige Strassenbahnkomposition als «aus zwei Tramzügen» bestehend zu bezeichnen, war zumindest ungewöhnlich, wenn nicht gar verwirrend. Hinzu kam, dass im fahrdienstlichen Sinne und gemäss den vom BAV herausgegebenen Schweizerischen Fahrdienstvorschriften FDV «einzelne oder zusammengekuppelte Triebfahrzeuge mit oder ohne Wagen, die auf die Strecke übergehen …» als «Zug» definiert wurden. Zwei Züge wären demnach zwei Kompositionen gewesen, welche sich voneinander unabhängig auf Schienen bewegt hatten.
Im Fall Münchenstein war erwiesenermassen nur ein Tramzug beteiligt. Die spezielle Betriebsweise «Vereinigte Führung von Zügen» dürfte kaum Anwendung gefunden haben, obwohl eine solche in den Fahrdienstvorschriften der Basler Verkehrs-Betriebe (BVB) und BLT seinerzeit sogar vorgesehen gewesen wäre. Nebenbei: Das Wort bzw. der Wortteil «Wagen» tauchte im Schlussbericht genau an drei Stellen auf, davon zwei Mal im Zusammenhang mit einem anlässlich der Entgleisung beschädigten Strassenfahrzeug («Personenwagen») und ein Mal im Zusammenhang bei der Beschreibung der Schäden («Die drei Wagenkästen sind höchstwahrscheinlich verzogen.»).
Beim Gelenk-Motorwagen Be 4/6 113 handelte es sich keineswegs um die «gleiche Komposition wie Nr. 250 jedoch ohne ‹Sänfte›». Die gegenüber dem Be 4/8 250 nicht unerheblichen Bauartunterschiede des Be 4/6 113, speziell im Drehgestellbereich, waren zwar für die Unfallanalyse zweitrangig. Dennoch stellte diese Aussage die Fachkompetenz des Berichtverfassers erheblich in Frage.
b. Schiene – Gleis – Lücke
Bei der im Gegenuhrzeigersinn befahrenen Schlaufe Münchenstein kreuzte das Schlaufengleis unmittelbar nach der spitz befahrenen Weiche 108 das Gegengleis. Der Untersuchungsbeauftragte bekundete einige Mühe mit der Beschreibung dieser Gleisdurchschneidung: «Diese Kreuzung 733 ist schienentechnisch einfacher als eine ‹normale› Kreuzung ausgeführt. Das Gegengleis hat keine Lücke wie bei einer ‹normalen› Kreuzung üblich …».
Kreuzung 733 mit Überlaufherzstücken und Weiche 108, Blick in Richtung Basel (13. April 2013).
© Dominik Madörin, CH-Ettingen (Bild-Nr. DFB_5941)
Ausschnitt Weichenplan (Stand 2011).
© BVB
Die Kreuzung 733 war bei weitem nicht einfacher ausgeführt als eine «normale» Kreuzung. Vielmehr traf das Gegenteil zu, verfügte die Kreuzung 733 doch über vier sogenannte Überlaufherzstücke! Bei diesen handelte es sich gewissermassen um Kombinationen von Tief- und Flachrillen-Herzstücken. Die selten verbauten Überlaufherzstücke ermöglichten, bei einem Gleis auf einen Unterbruch des Fahrkantenverlaufs zu verzichten. In der Hauptfahrrichtung Dornach–Basel rollte das Rad so stets auf seiner Lauffläche und wurde durchgehend geführt. Beim Befahren der Kreuzung entstanden keine Schläge, welche sich auf den Fahrkomfort negativ auswirkten und den Verschleiss förderten. Ausserdem konnte die Kreuzung mit höherer Geschwindigkeit befahren werden. In der Hauptfahrtrichtung war das Herzstück also als Tiefrillenherzstück ausgeführt. In der weniger befahrenen Richtung, dem Schlaufengleis folgend, mussten die Räder dafür auf ihren Spurkränzen laufend über die Schienenköpfe des Streckengleises hinweggeführt werden. In dieser Richtung war das Überlaufherzstück daher als Auflaufherzstück ausgebildet und die Geschwindigkeit auf 5 km/h beschränkt. Nebenbei: Das Wort bzw. den Wortteil «Herzstück» suchte man im Schlussbericht vergebens.
Detailansicht von zwei der vier Überlaufherzstücken der Kreuzung 733. Deutlich ist die unterbruchlose Fahrkante des von links nach rechts durchlaufenden Streckengleises erkennbar.
© Dominik Madörin, CH-Ettingen (Bild-Nr. DFB_5944)
Als Gleis definiert wird die Fahrbahn von Schienenfahrzeugen. Es besteht in der Regel aus hintereinanderliegenden Schwellen, auf denen zwei parallel liegende Schienen befestigt sind. Selbst bei Kreuzungen mit Tiefrillenherzstücken konventioneller Bauart entsteht keine Lücke im Gleis, denn es fehlen zum Glück weder Schienen noch Schwellen! Lediglich eine Aussparung in der Fahrkante – allenfalls als Schienenlücke benennbar – ermöglicht, dass der Spurkranz des Rades, das der anderen Schiene folgt, unbeeinträchtigt durchlaufen kann.
Inhalt
Sicher konnte man mit einem Lächeln über die etwas seltsame Wortwahl hinwegsehen und obige Bemerkungen dazu als spitzfindig abtun. Schliesslich kam es auf den Inhalt des Berichtes an! Dieser vermochte jedoch ebenfalls nicht restlos zu überzeugen und wies sogar klare Falschaussagen auf. Ausserdem griff der Bericht zu kurz: Auf fünf von sieben Textseiten beschrieb der Verfasser Anlagen und Betriebsablauf und schilderte Schäden an Fahrzeugen und Infrastruktur. Dabei wiederholten sich dieselben Aussagen an verschiedenen Stellen. Analyse und Schlussfolgerung wurden nur eine Seite gewidmet.
a. Klare Falschaussage
Die Aussage «Die beiden Kompositionen wurden geborgen und für weitere Abklärungen nach Arlesheim, Areal ‹Widen›, gebracht.» (Abschnitt 1.16) war falsch und widerlegbar: Es wurde nur der führende Be 4/8 250 in das Widen-Areal verbracht. Der Be 4/6 113 wurde am 3. November 2011 in zwei Teilen direkt zum Depot Hüslimatt transportiert, dort neben den Gleisen abgestellt, später ausgeschlachtet und dem Abbruch zugeführt.
b. Fragwürdige Interpretation
Bezüglich der Auswertung der Fahrdaten notierte der Untersuchungsbeauftragte: «Das Geschwindigkeitssignal reisst bei einer Geschwindigkeit von 38 km/h ab.» (Abschnitt 1.12). Er meinte dabei wohl das abrupte Abfallen der Geschwindigkeitskurve auf Null.
Ein Abreissen des Geschwindigkeitssignals wäre einem Unterbruch der Datenversorgung oder der Speisung gleichgekommen. Eine derartige Deutung des Diagramms wollte der Vertreter des Herstellers der Fahrdatenaufzeichnungsanlage (SYNICS RAIL GmbH, Belp; Mailverkehr vom 27.05.2013) jedenfalls nicht bestätigen. Somit waren die Interpretation der Fahrdaten und die daraus abgeleitete Folgerung zumindest fragwürdig, denn der Untersuchungsbeauftragte schloss aus dem Diagramm: «Dieser Punkt ist mit grösster Wahrscheinlich der Entgleisungspunkt auf dem Kreuzungsstück.» (Abschnitt 1.12). Ein rasches Abfallen der Geschwindigkeitskurve auf Null konnte auch durch eine blockierte Achse erfolgen, was schon vor der Entgleisung möglich gewesen sein könnte.
Völlig ausser Acht gelassen wurde zudem, dass der Achsgeber, welcher das Fahrdatenaufzeichnungsgerät mit den entsprechenden Signalen versorgte, beim Be 4/8 250 an der Achse 3, also am Jakobs-Laufdrehgestell unter dem ersten Gelenk, montiert war. Dieses Drehgestell dürfte erst entgleist sein, nachdem das vordere Triebdrehgestell bereits aus den Schienen gesprungen war. Der Satz «Dieser Punkt ist mit grösster Wahrscheinlich der Entgleisungspunkt auf dem Kreuzungsstück.» hätte entsprechend präzisiert werden müssen.
c. Hypothesen
Unklar war, was Hypothesen von SUST-Untersuchungsbeauftragten in einem Schlussbericht zu suchen hatten und was der Autor mit solchen bezwecken wollte, war es doch seine Aufgabe, das Ereignis präzise zu analysieren und nicht Katastrophenszenarien auszuarbeiten.
Überflüssig und jeglicher Grundlage entbehrend war etwa der zweite Teil folgender Aussage im Abschnitt 2.1: «Auf Grund des tiefliegenden Schwerpunkts und der geringen Spurführung der Radsätze über den Kreuzungsteil ‹ablenkender Strang – Gegengleis› sind die Radsätze wegen der zu hohen Geschwindigkeit dort aus den Schienen gesprungen. Bei einer ‹normalen› Ausführung des Kreuzungsteils wären die Fahrzeuge gekippt.» Wäre es für die Analyse des Ereignisses massgebend gewesen aufzuzeigen, dass bei einer Ausführung der Kreuzung 733 mit Tiefrillen-Herzstücken die entgleisten Fahrzeuge umgestürzt wären, hätten zwingend entsprechende Nachweise erbracht werden müssen.
Ferner dürfte es kaum Aufgabe der SUST gewesen sein, Empfehlungen für eine allfällige Fahrzeugreparatur abzugeben (Abschnitt 1.13: «Die Drehgestelle müssen komplett demontiert und die Rahmen ausgemessen und allenfalls gerichtet werden.»). Es konnte wohl getrost dem Fahrzeughalter überlassen werden, ob er im Falle einer Reparatur des Fahrzeugs die Drehgestelle durch neue Exemplare ersetzt oder repariert.
d. Unfallursache
Der Schlussbericht hielt zwar fest, dass die Weiche 108 in Richtung Wendeschlaufe gestellt war und mit zu hoher Geschwindigkeit befahren wurde. Auf die Umstände, wie es dazu kam, wurde jedoch nicht eingegangen. Dem Kontext konnte allenfalls entnommen werden, dass es sich um einen Bedienungsfehler des Wagenführers gehandelt haben könnte, der – an der Haltestelle Münchenstein Dorf stehend – die zur Anforderung der Fahrstrasse dienenden Tasten «W» und «S» verwechselte und so irrtümlich das Umstellen der Weiche in Richtung Schlaufe veranlasste. In diesem Falle und bei störungsfrei funktionierender Sicherungsanlage (wovon der Untersuchungsbeauftragte ausging) hätten die Signale A und C jeweils Fahrbegriff 2 signalisiert.
Fahrbegriff 2 bedeutete gemäss den Fahrdienstvorschriften BVB/BLT: «Ab der nächsten Weiche gilt die höchstzulässige Geschwindigkeit von 10 km/h.» Somit musste davon ausgegangen werden, dass der Wagenführer nicht nur irrtümlich eine Fahrstrasse in Richtung Wendeschlaufe angefordert hatte, sondern überdies hinaus den Fahrbegriff am Signal A (bei der Haltestelle Münchenstein Dorf) missachtete. Anders war nicht erklärbar, weshalb er den Tramzug für das Zurücklegen der lediglich ca. 200 Meter langen Strecke bis zum Signal C bzw. der dahinter liegenden Weiche 108 auf über 50 km/h beschleunigte.
Sicht von der Haltestelle Münchenstein Dorf in Richtung Dornach mit Signal A. An diesem Punkt musste früher «S» für Fahrt nach Dornach oder «W» für Fahrt in die Wendeschlaufe angewählt werden. Das Signal C wird auf dieser Aufnahme durch einen Holm der offenen Barriere des Übergangs zur Parallelerschliessungsstrasse im Bereich Tramstrasse Nr. 39 verdeckt.
© Dominik Madörin, CH-Ettingen (Bild-Nr. DFB_5948)
Das rund 50 Meter vor der Weiche 108 stehende Signal C bzw. der an diesem gezeigte Fahrbegriff war bereits von der Haltestelle Münchenstein Dorf aus sichtbar. Zusätzlich stellte sich daher die Frage, weshalb der Wagenführer nicht schon früher auf seinen Irrtum aufmerksam geworden war und die Geschwindigkeit entsprechend zurückgenommen hatte. Wäre beispielsweise beim Signal C eine Gefahrenbremsung (entspricht einer Bremsung mit höchstmöglicher Verzögerung) eingeleitet worden, hätte ein zu schnelles Befahren der ablenkenden Weiche bzw. der anschliessenden Kreuzung mit aller Wahrscheinlichkeit noch verhindert werden können.
Der Untersuchungsbericht enthielt keine Aussagen des Wagenführers, welche Rückschlüsse auf sein Verhalten oder auf die an den Signalen A und C gezeigten bzw. vom Wagenführer wahrgenommenen Fahrbegriffe zugelassen hätten. Es dürfte daher kaum falsch gewesen sein anzunehmen, dass mangelnde Aufmerksamkeit des Wagenführers eine Rolle gespielt haben könnte – ein Aspekt, der im Bericht nicht thematisiert wurde.
Nicht explizit ausgeschlossen, da nicht entsprechend untersucht, konnte auch eine Fehlfunktion der Sicherungsanlage, beispielsweise verursacht durch eine Störbeeinflussung des Übertragungssystems Trans-X. Zumindest denkbar gewesen wäre, dass zwar die Weiche in Richtung Wendeschlaufe stand, die Signale A und C aber Fahrbegriff 1 zeigten. Damit hätte sich erklären lassen, weshalb es zur starken Beschleunigung des Tramzugs durch den Wagenführer kam. Der Untersuchungsbericht lieferte aber auch hier keine Antwort.
Fazit
Der SUST-Schlussbericht Reg.-Nr. 1110202 benannte die eigentliche Ursache der Entgleisung präzise, indem er auf die stark überhöhte Geschwindigkeit beim Befahren der Weiche 108 und der anschliessenden Kreuzung 733 hinwies. In diesem Punkt erfüllte er die grundlegenden Ansprüche. Nur ungenügend beleuchtet wurden hingegen die Umstände, wie es dazu kommen konnte. Besonders auffällig war das Fehlen klarer Aussagen zum Verhalten des Wagenführers.
Ob sich das korrekte Funktionieren der Sicherungsanlage ausschliesslich aufgrund fehlender Einträge im Störungsprotokoll abschliessend beurteilen liess, sei dahingestellt. Ebenso war zu hinterfragen, ob die Art und Weise der vom Untersuchungsbeauftragten durchgeführten Funktionsprüfung der Weichensteuerung des Be 4/8 250 zweckmässig war. Aussagen zum Ergebnis dieser Untersuchung fehlten jedenfalls im Bericht. Zweifelhaft war auch die Interpretation der Fahrdaten.
Die lange Untersuchungsdauer konnte mit der Zusammenlegung der beiden Unfalluntersuchungsstellen entschuldigt werden. Stil und Inhalt des Berichts wurden einem Dokument einer Bundesstelle jedenfalls nicht gerecht.
Ergänzende Literatur
1. Amtliche Dokumente
Schlussbericht über die Entgleisung vom 02. November 2011 in Münchenstein | Reg.Nr. 11110202
(.pdf-Dokument, 687 kB, © 2011 Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe SUST)
Schlussbericht über die Kollision von zwei Reisezügen vom Donnerstag 06. Oktober 2011 in Olten | Reg.Nr. 11100601
(.pdf-Dokument, 653 kB, © 2011 Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe SUST)
Zuletzt aktualisiert am 15. Januar 2025 von Dominik Madörin
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